KEAN: Frau Tack, Sie sind die Vorstandsvorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen. Was ist eigentlich die „Freie Wohlfahrtspflege“ und welche Aufgabe hat die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen?
Kerstin Tack: Die Freie Wohlfahrtspflege ist ein zentraler Bestandteil des Sozialstaats und damit unseres sozialen Sicherungssystems in Deutschland. Sie umfasst gemeinnützige Organisationen, die soziale Dienstleistungen für Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen anbieten – sei es in der Kinder- und Jugendhilfe, der Pflege, der Behindertenhilfe oder der Migrationsberatung.
Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen (LAG FW) ist der Zusammenschluss der Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege. Das sind Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk, Jüdische Wohlfahrt und der Paritätische Wohlfahrtsverband. Unser Ziel ist es, soziale Gerechtigkeit und Teilhabe für alle Menschen sicherzustellen. Wir vertreten die Interessen unserer Mitglieder gegenüber der Politik, fördern den Austausch unter den Trägern und setzen uns für eine nachhaltige Sozialpolitik ein.
Die LAG FW feiert in diesem Jahr unter dem Leitmotiv „Vielfalt und Innovation – Den Menschen im Mittelpunkt“ ihr 80-jähriges Bestehen. Und es ist genau diese Vielfalt, die uns ausmacht. Allein in Niedersachsen sprechen wir über etwa 8.000 soziale Einrichtungen, Beratungsstellen und Dienste mit mehr als 300.000 hauptamtlich Beschäftigten und 500.000 ehrenamtlichen Helfer:innen. Wir sind also nicht nur für die Menschen in ganz Niedersachsen ein verlässlicher Partner, sondern auch ein entscheidender Wirtschaftsfaktor für unser Bundesland.
KEAN: Klimaschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, welche Rolle spielt die Sozialwirtschaft für das Erreichen der Klimaschutzziele?
Tack: Die Sozialwirtschaft ist ein wichtiger Akteur im Bereich Klimaschutz. Soziale Einrichtungen sind nicht nur große Arbeitgeber, sondern auch bedeutende Verbraucher von Ressourcen. Deshalb haben wir eine Verantwortung, unseren ökologischen Fußabdruck zu verringern und nachhaltige Konzepte in unseren Einrichtungen zu etablieren.
Unsere Rolle ist dabei vielschichtig: Einerseits sind wir als Organisationen selbst gefordert, nachhaltiger zu wirtschaften, Energie effizient zu nutzen und klimafreundliche Maßnahmen umzusetzen. Die vergangenen Krisenjahre mit enormer Inflation, Haushaltsdruck, gestiegenen Energiekosten und Fachkräftemangel haben andererseits aber auch die Einrichtungen unter Druck gesetzt. Aufgrund des stressigen Arbeitsalltags fehlten schlichtweg Zeit, Know-How und das Geld, um beispielsweise eine Photovoltaikanlage auf dem Dach zu planen, geschweige denn umzusetzen und zu finanzieren. Hier besteht mit Blick auf die energetischen Einsparpotentiale ein großer Nachholbedarf.
Die Potentiale sind riesig, die Herausforderungen groß. Insbesondere in den Bereichen bessere Wärmedämmung, Einsatz erneuerbarer Energien und effizientere Heizsysteme müssen wir vorankommen.
Darüber hinaus kann die Wohlfahrt eine Vorreiterrolle im Bereich nachhaltiger Mobilität einnehmen. Die Potentiale sind auch hier enorm. Denken Sie nur an die vielen ambulanten Pflegedienste, die tagtäglich zu den Menschen nach Hause kommen. Viele ambulante Einrichtungen, nicht nur in der Pflege, fahren noch mit konventionellen Verbrennermotoren durch unsere Städte und übers Land. Die Umstellung unserer großen Fuhrparks auf nachhaltige Mobilitätskonzepte wie bspw. E-Mobilität oder Sharing-Modelle reduziert Emissionen und verbessert die Luftqualität. Auch hier unterstützt KiSs die Einrichtungen der Freien Wohlfahrt bei der Suche nach passenden Konzepten zu alternativen Fahrzeugantrieben.
KEAN: Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie für die Freie Wohlfahrtspflege beim Klimaschutz? Wo müssen wir aus Ihrer Sicht ansetzen, um den Umstieg auf eine effiziente und zukunftsfähige Energieversorgung in sozialen Einrichtungen zu meistern?
Tack: Eine der größten Herausforderungen ist die Finanzierung. Gemeinnützige Träger haben oft nicht die Mittel, um notwendige Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen zu stemmen. Im Gegensatz zu profitorientierten Unternehmen, können gemeinnützige Träger nur sehr eingeschränkt Rücklagen bilden, sodass es oftmals an Investitionsvolumen fehlt um zukunftsorientierte Projekte umzusetzen. In diesem Komplex ist auch die sogenannte KMU-Problematik zu nennen, denn viele Klimaschutz- und Transformationsförderprogramme sind auf klassische profitorientierte Unternehmen zugeschnitten.
Gemeinnützige Träger haben oft keinen oder nur erschwerten Zugang zu diesen Mitteln, obwohl sie ähnlich wirtschaften müssen. Wir müssen an mehreren Stellen ansetzen: Es braucht langfristig angelegte Förderprogramme für die gemeinnützige Sozialwirtschaft, klare politische Rahmenbedingungen und praxisnahe Unterstützung für Einrichtungen. Umso mehr freuen wir uns, dass unsere Verbandsfamilien in Sachen Fördermittelakquise in Zukunft passgenau vom KiSs-Projekt beraten werden. Das entlastet das Personal in den Einrichtungen, das ohnehin oft am Limit arbeitet, von weiteren Verwaltungs- und Rechercheaufgaben für komplexe Förder- und Finanzierungsmaßnahmen und bürokratisch anspruchsvollen Anträgen.
KEAN: Was wünschen Sie sich für das KiSs-Projekt?
Tack: Das KiSs-Projekt ist ein wichtiger Baustein, um Klimaschutz und soziale Verantwortung miteinander zu verbinden. Ich wünsche mir, dass es als Vorbild dient und zeigt, dass soziale Einrichtungen aktiv zur Nachhaltigkeit beitragen können. Zudem hoffe ich, dass das Projekt praxisnahe Lösungen entwickelt, die in vielen Einrichtungen umgesetzt werden können.
Den Weg den wir gemeinsam in Niedersachsen mit dem KiSs Projekt gehen ist Deutschlandweit einzigartig. Dementsprechend wünsche ich mir, dass die gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen auch über Niedersachsen hinauswirken und dazu beitragen, dass Klimaschutz deutschlandweit in der Sozialwirtschaft selbstverständlich wird. Denn letztendlich geht es darum, Menschen für das Thema zu begeistern und zu zeigen, dass soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz Hand in Hand gehen können. Im Namen der 8.000 sozialen Einrichtungen kann ich sagen: Wir freuen uns sehr auf die kommenden Jahre der Zusammenarbeit mit dem KiSs-Projekt. Die jetzt beginnenden Entwicklungsschritte sind für uns nicht nur eine Herausforderung, sondern vor allem eine große Chance.
KEAN: Vielen Dank Frau Tack für den Einblick.
Weitere Informationen zum Projekt und erste Informationen für die Sozialwirtschaft auf unserer Themenseite.